Redebeitrag: Zulassung für Medizinprodukte reformieren – Sicherheit des Patienten muss an erster Stelle stehen

Sehr geehrte Frau Präsidentin,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

unseren Antrag „Zulassung für Medizinprodukte reformieren – Sicherheit des Patienten muss an erster Stelle stehen“ haben wir im Juni vergangen Jahres zur ersten Beratung im Plenum eingebracht. Seitdem hat sich auf bundespolitischer Ebene Einiges getan. Wie von uns gefordert, hat der Bundestag ein Implantateregister-Errichtungsgesetz (EIRD) verabschiedet.

Anstatt uns auf den erreichten Erfolgen auszuruhen, wollen wir jedoch den Schutz der Patientinnen und Patienten weiter ausbauen.

Denn Medizinprodukte sind ein zweischneidiges Schwert. Sie lindern große Schmerzen und retten Leben, können aber auch eine verheerende Wirkung entfalten.

1961 schrieb der Kardiologe Heinz-Joachim Sykosch Medizingeschichte, als er zum ersten Mal in Deutschland einen Herzschrittmacher implantierte. Der mutige Pionier hätte damals bestimmt nicht zu träumen gewagt, dass ein solcher Eingriff eines Tages zum Krankenhausalltag gehören würde. Am 29.09.2019, dem Welt-Herz-Tag, gab das Statistische Bundesamt bekannt, dass 2018 in Deutschland sage und schreibe 127.113 Mal ein Herzschrittmacher/Defibrillator implantiert wurde.

Implantate sind für viele Menschen überlebenswichtig und dennoch werden sie noch nicht stark genug kontrolliert.

In der Vergangenheit hatte dies Skandale, Rückrufaktionen, Folgeoperationen und schlimmstenfalls sogar Todesfälle zur Folge.

Im November 2019 berichtete die Süddeutsche Zeitung über einen entlassenen Arzt aus dem Ostfriesischen Leer, der sich voraussichtlich in diesem Jahr wegen Körperverletzung in 59 Fällen vor Gericht verantworten werden müsse. Der Mann soll seinen Patientinnen und Patienten defekte Bandscheibenprothesen, für die er vom Hersteller Geld kassiert haben soll, implantiert haben. Die Betroffenen klagten – das müssen Sie sich mal vorstellen – über in ihren Körpern verrutschte oder zerbröselte Prothesen und mussten sich Folgeoperationen unterziehen.

Bereits vor zehn Jahre wurde ein aufsehenerregender Skandal um das französische Unternehmen Poly Implant Prothèse (PIP) aufgedeckt, welches Brustimplantate mit Industriesilikon befüllt und die Gesundheit hunderttausender Frauen leichtfertig aufs Spiel gesetzt hatte.

Ich könnte noch zahlreiche weitere Skandale von giftigen Hüftprothesen aus Metall, das Schlaganfallrisiko erhöhende Stents oder sich selbst entladenden Herzschrittmachern schildern.

Eine Mitverantwortung dafür tragen die sogenannten Benannten Stellen der EU. Dabei handelt es sich um private Unternehmen, die staatlich benannt wurden, die Zulassung von Medizinprodukten zu übernehmen.

Am 26. Mai 2020 soll die EU-Medizinprodukte-Verordnung (MDR) in Kraft treten, gefolgt von der Verordnung über In-Vitro-Diagnostika (IVDR) am 26. Mai 2022. Diese Neuregelungen versprechen unter anderem eine einheitliche Benennung und Überwachung der Benannten Stellen, die auf konkretisierten und verschärften Anforderungen bestehen sollen sowie die Einführung eines Konsultationsverfahren für Hochrisikoprodukte (Scrutiny-Verfahren).

Dr. Marc-Pierre Möll, der Geschäftsführer des Bundesverband Medizintechnologie (BVMed), warnt im Hinblick auf die Implementierung der EU-MDR vor einem „Zertifizierungschaos“.

Man muss bedenken: Von bislang 58 Benannten Stellen sind momentan, soweit uns bekannt ist, erst 10 nach der neuen EU-MDR benannt. Die anderen warten noch auf eine Benennung und dürfen bis dahin keine Medizinprodukte zertifizieren. Aufgrund der geringen Anzahl an Benannten Stellen muss sich auf Liefer- beziehungsweise Versorgungsengpässe eingestellt werden.

In der Vergangenheit war es leider oft der Fall, dass Patientinnen und Patienten keine Unterstützung erhielten. Die Kosten wälzten die Pharmahersteller auf die Sozialversicherung ab oder sogar auf die Betroffenen selbst. Man ließ sie im Regen stehen!

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

So etwas darf nicht wieder geschehen!

Pharmakonzerne können ihre Interessen eigenständig behaupten. Kranke Menschen sind auf sich allein gestellt. Ihr Wohlbefinden und ihre Sicherheit müssen unser aller Ziel sein!

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

es ist eine furchtbare Situation, wenn ein medizinischer Eingriff die Gesundheit nicht wiederherstellt, sondern alles verschlimmert.

Man hat sich Leidensfreiheit oder zunehmende Bewegungsfreiheit versprochen und erwacht im Krankenhausbett mit körperlichen Schäden. Diese können auch das seelische Befinden in Mitleidenschaft ziehen und zwingen zu Folgeoperationen. Mitunter zu einem erheblichen finanziellen Aufwand.

Mehrere zehntausend medizinische Produkte, die pro Jahr ausgewechselt werden müssen, ziehen immense Kosten für unser Gesundheitssystem nach sich. Dasselbe gilt für die Krankenkassen.

Die sozialdemokratische Fraktion strebt gemeinsam mit ihrem Koalitionspartner CDU die bestmögliche Versorgung für alle Patientinnen und Patienten an. Die hohe Dynamik und Innovation des Medizinmarktes haben wir selbstverständlich im Blick.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Das Implantateregister-Errichtungsgesetz ist ein großer Schritt in die richtige Richtung, ebenso eine ab Mai 2021 gültige EU-Verordnung. Sie sieht eine Identifizierungsnummer vor, die es den Verbraucherinnen und Verbrauchern ermöglicht, Hochrisiko-Medizinprodukte sofort zu erkennen.

Darüber hinaus bitten wir die Niedersächsische Landesregierung:

  1. dass Hochrisikoprodukte, die in den Körper implantiert werden oder Arzneimittel in den Körper abgeben, wie Insulinpumpen, einen zentralisierten Markzugang analog zur Arzneimittelzulassung bekommen,
  2. dass die Zulassung über die Europäische Arzneimittelagentur in London erfolgt,
  3. dass es für das „Inverkehrbringen“ von Medizinprodukten in Europa keine Möglichkeit geben soll, eine Benannte Stelle selbst auszuwählen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

beim Wohlbefinden der Verbraucherinnen und Verbraucher dürfen wir uns nicht von rein wirtschaftlichen Interessen der Pharmakonzerne anleiten lassen.

 Es geht um den Schutz der Verbraucherinnen und Verbrauchern in Niedersachsen!

An dieser Stelle möchte ich aus einer Stellungnahme der Bundesärztekammer (BÄK) zitieren:

„Die Befugnis der Hersteller, eine Benannte Stelle europaweit frei auszuwählen, begründet einen Preiswettbewerb der Benannten Stellen, der dazu verleitet, Ermessensspielräume zugunsten der Hersteller und des schnellen Marktzutritts neuer Medizinprodukte und zulasten der Produktsicherheit auszunutzen.“  Auch nach Inkrafttreten der neuen EU-MDR werden die Benannten Stellen selbstständig ausgewählt werden können, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Hier besteht eindeutig ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Benannten Stellen und den Pharmakonzernen.

Das höchste Sicherheitsniveau für die Patientinnen und Patienten können wir nur mittels einer finanziell unabhängigen, zentralen Zulassungsstelle für Hochrisiko-Medizinprodukte und Implantate erreichen

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

der federführende Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, der Unterausschuss Verbraucherschutz sowie der Ausschuss für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung empfehlen, den Antrag unverändert anzunehmen.

Stellen Sie die Patientensicherheit an erster Stelle und stimmen Sie diesem Antrag zu.

Vielen Dank im Voraus!